Test - Crysis Remastered : PS4-Test: Früher war mehr Lametta
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Als Crysis im Herbst 2007 erschien, wurde seine Veröffentlichung von einem Hype begleitet, der dieser Tage allenfalls mit dem um Cyberpunk 2077 vergleichbar ist. Bis heute liegt der Metascore bei deutlich über der magischen 90er-Schallmauer. Dennoch hat der Ruf des deutschen Vorzeigeshooters im Laufe der Jahre stark gelitten: „Grafikblender“ ist nur eine der häufigsten Vokabeln, mit denen der einst als Meisterwerk gehandelte Titel heute abschätzig bedacht wird. Die Geschichte von Crysis ist eine Geschichte voller Missverständnisse. Dieser Tag erschien das Remastered für PC, PS4 und Xbox One. (Auf Switch ist es schon seit Juli erhältlich.) Die ideale Gelegenheit für eine Neuverortung in der Spielehistorie.
Es ist schon seltsam, wie sich die Wahrnehmung und der Ruf eines Spiels im Laufe der Zeit wandeln und sogar ins Gegenteil verkehren kann. Als Crysis vor 13 Jahren erschien, wurde es von einem Hype begleitet, der keine Grenzen kannte, und von allen Seiten mit Bestwertungen im 90er-Bereich überschüttet. Es stellte selbst Konkurrenten wie Call of Duty: Modern Warfare, Halo 3 und erst recht das vermeintlich nicht mainstreamtaugliche Bioshock weit in den Schatten, die damals alle etwa zur selben Zeit erschienen.
Doch während der Activision-Shooter mit seiner bombastischen Inszenierung das gesamte Genre in seinen Grundfesten erschütterte und der Unterwasserausflug nach Rapture bis heute als Musterbeispiel für intelligente Action-Unterhaltung gilt, wird Crysis im Nachhinein von vielen Spielern mit Geringschätzung bedacht, als „Grafikblender“ geschmäht oder angesichts seiner damals völlig überzogenen Hardware-Anforderungen verspottet. Warum ist das so? Und haben wir uns alle damals vom Hype blenden lassen und reihenweise Fehlwertungen verteilt?
Can it run Crysis?
Letzterer Punkt – die horrenden Hardware-Anforderungen – mögen einen großen Anteil an dieser Verschiebung in der Wahrnehmung haben. „Can it run Crysis?“ wurde zum Treppenwitz der Spielegeschichte in Anspielung darauf, dass das Spiel zu seiner Zeit selbst auf der teuersten Hardware kaum flüssig lief. Crysis in seinen höchsten Detaileinstellungen spielen zu können – das klang lange nach purer Science-Fiction-Zukunftsmusik. Dergestalt wirkte das Spiel wie eine Potenzschau von Crytek, um die eigene Engine zu vermarkten, während spielerische Qualitäten vermeintlich nur eine Nebenrolle spielten.
Sicherlich trägt auch das Setting des Spiels seinen Teil zur Veränderung in der Wahrnehmung bei. Während uns Modern Warfare in zahlreiche unterschiedliche Regionen um den gesamten Erdball schickte und Bioshock mit seiner außergewöhnlichen Unterwasserstadt faszinierte, bot Crysis mit seiner Tropeninsel zu wenig Abwechslung, um nachhaltig in Erinnerung zu bleiben. Während die Explosion der Atombombe in Modern Warfare bis heute ihren bleibenden Eindruck hinterlassen hat und der Story-Twist von Bioshock immer noch regelmäßig als einer der schockierendsten Momente der Spielegeschichte zitiert wird, konnte Crysis keine ikonischen Momente mit gleicher Nachhaltigkeit erzeugen. Das gefrorene Schiff mitten im Dschungel, die Explosion des Berges, die Schlacht gegen die Aliens auf dem Flugzeugträger – ja, da war irgendwas, aber die Erinnerung an diese Szenen ist mittlerweile schon ziemlich verschwommen. Auch über die beiden Nachfolger lässt sich Gleiches sagen.
Hinzu kommt eine Story, über die in einem Zeugnis, wollte man es den Autoren ausstellen, Sätze stehen würden wie „waren stets bemüht“. Mit dem Hintergrund eines Konflikts zwischen Amerikanern und Nordkoreanern, die sich auf einer philippinischen Insel einen Wettlauf um die Ausgrabung prähistorischer Alien-Artefakte liefern, bis diese zum Leben erwachen und einen Krieg gegen die Außerirdischen auslösen, versuchte sich mit seiner zeitgeschichtlichen Aktualität in einen Hauch von politischer Brisanz zu kleiden, begrub diesen Anspruch aber unter militaristischen Parolen und seelenlosen Charakteren. Nomad, Prophet, Psycho – bis heute weiß ich nicht genau, wer eigentlich wer ist und warum mir sein Schicksal etwas bedeuten sollte.
Ein unterschätztes Meisterwerk
Dennoch wird heutzutage häufig vergessen, dass Crysis seinerzeit auch spielerisch eine Bestandsaufnahme all dessen war, was das Shooter-Genre zur damaligen Zeit ausmachte, und dies ungeachtet mancherlei berechtigter Kritik auf ein ganz neues Level hob. Allein die Vielzahl spielerischer Möglichkeiten im Kampf, die man heute als „Sandbox-Kampfsystem“ bezeichnen würde, waren damals allen Konkurrenten weit überlegen – erst recht wenn man es mit dem stumpfsinnigen Geballer von Modern Warfare nebenan vergleicht. Ein Problem von Crysis mag in der Rückschau gewesen sein, dass es seiner Zeit so weit voraus war, dass es dafür noch gar keine Begriffe gab, um seine spielerischen Facetten zu benennen und deren Qualitäten wertzuschätzen.
Die Spezialfähigkeiten des Nanosuit etwa ließen völlig neue taktische Möglichkeiten zu, wie riesige Sprünge durch die Luft, mächtige Nahkampf-Attacken und Unsichtbarkeit fürs Schleichen. Letzteres ist in modernen Shootern nahezu selbstverständlich, weswegen man gerne übersieht, wie revolutionär die spielerische Vielfalt von Crysis damals gewesen ist. Gleichzeitig offenbart gerade das Schleichen stellvertretend für viele dieser Facetten des Spiels, worin sein Problem für eine heutige Einordnung besteht: Viele Spielmechaniken waren so neu und experimentell, dass sie noch nicht so funktionierten, wie sie sollten, und erst andere Spiele wie Far Cry 3 oder Metro Last Light kommen mussten, um weiterzuentwickeln, was Crysis begonnen hatte.
Auch die KI in diesem Zusammenhang, die seinerzeit sicherlich zu den schlauesten überhaupt gehörte, sich nicht (wie in vielen Spielen selbst heute noch) einfach hinter der Deckung verschanzte und den Spieler lediglich zum Tontaubenschießen herausforderte, sondern taktisch vorging, sich zurückzog und versuchte, dem Helden in den Rücken zu fallen, hatte dennoch offensichtliche Macken: Mal sieht sie mich nicht, obwohl sie direkt vor mir steht, mal verhält sie sich schlicht merkwürdig, als sei sie betrunken, vor allem aber ist sie häufig viel zu aufmerksam, weswegen sie den Spieler bereits aus Hunderten Metern Entfernung erspäht und direkt aufs Korn nimmt – was wiederum das Schleichen zu einer meist sinnlosen Option erklärt. Heutige Internet-Memes, die sich etwa mit dem Foto eines tobenden Rambos über optionales Schleichen in Spielen lustig machen, haben sicherlich einen nicht zu unterschätzenden Teil ihres Ursprungs in dieser Phase der Spielegeschichte.
Wenn man sich heute das Level-Design von Crysis anschaut, kann man als Spielejournalist gar nicht anders, als ehrfürchtig den Hut vor den Entwicklern ziehen. Wenngleich der Ablauf streng linear strukturiert ist, breiten die Entwickler ihn in einer Spielwelt aus, die man heute als „Open World“ bezeichnen würde. Die spielerische Freiheit bei der eigenen Vorgehensweise, die Crysis damit bot, fällt absolut beispiellos für die damalige Zeit aus. Crysis baut konsequent die Vision einer größtmöglichen Bewegungsfreiheit aus, die die Entwickler schon mit Far Cry in Ansätzen verfolgten (und dort wiederum von Halo geklaut und konsequent weiterentwickelt hatten).
Hinzu kommt ein Abwechslungsreichtum, den man angesichts der in der Erinnerung allesamt recht gleich ausfallenden Schusswechsel vor Palmenkulisse etwas verdrängt hat: die bombastische Panzerfahrt etwa, die Verfolgungsjagd mit dem Motorboot über den Fluss oder die schwerelose Reise durch das Alien-Mutterschiff. Crysis versucht den Spieler in jeder Szene mit etwas Neuem zu überraschen, wie es allenfalls Shootern der absoluten Spitzenklasse wie Half-Life 2, Dishonored 2 oder Titanfall 2 gelingt.
Und dann lässt sich natürlich über Crysis nicht sprechen, ohne über seine Grafik zu reden. Und die war trotz ihrer unverschämt hohen Hardware-Anforderungen seinerzeit nichts weniger als eine Werkschau dessen, was man State of the Art nennt. Die detaillierte Vegetation des tropischen Dschungels, die riesige Sichtweite vom Hügel über die Insel, die Lichtstrahlen, die durch die Blätter brechen, die realistischen Charaktermodelle, die sogar heute noch ansehnlichen Rauch- und Partikeleffekte der Explosionen – das war schon ziemlich sensationell, vorausgesetzt man verfügte über einen Rechner, der den Spaß mitmachte.
Das eigentlich Revolutionäre daran war aber, dass Crytek die Kraft seiner Grafik- mit einer Physik-Engine verzahnte, die ein einzigartiges Spielerlebnis ermöglichte. Bei Schusswechseln im Dschungel fetzen einzelne Blätter von den Bananenstauden und Palmen stürzen um auf die Straße, die Gebäude brechen im Kugelhagel zunehmend in sich zusammen, und Deckung aus Kisten und Containern splittert mit der Zeit einfach weg.
Crysis in der Kryse
Gerade am Beispiel der Physik-Engine zeigt sich am Remastered jedoch besonders gut, wie stark der Zahn der Zeit an Crysis geknabbert hat. Sicherlich hatte das Spiel schon immer viele Macken, über die man damals angesichts seiner strahlenden Qualitäten aber hinwegzusehen bereit war, was im Rückblick auch die damals hohen Wertungen erklärt und rechtfertigt. Doch genau diese Macken sind es, an denen ein Spiel sich abnutzt und die mit der Zeit immer stärker hervortreten. Paradoxerweise genau weil Crysis für seine Zeit so visionär ausfiel, veranschaulicht Crysis Remastered heute vor allem, wie schlecht das Spiel gealtert ist.
Meterhoch fliegende Wellblechdächer, peinlich zappelnde Ragdoll-Soldaten, ineinander glitchende Objekte – die Physik-Engine, mit der Crysis seine Welt auf maximal realistische Weise zum Leben erwecken beabsichtigt, wirkt aus heutiger Sicht mitunter nur noch lächerlich. Zumal sich das Remaster generell in einem (noch?) recht wackligen, technischen Zustand präsentiert: flackernde Texturen, regelmäßige Glitches, zweisekündige Aussetzer bei jedem Speichervorgang, irres KI-Verhalten – es scheint, als könne es keine Diskussion über Crysis geben, ohne Kritik an seiner technischen Umsetzung üben. Auch die Tonabmischung fällt bisweilen eigenartig aus: Das Geräusch beim Nachladen der Waffen ist mitunter viel zu leise, und Mörsergranaten schlagen zwar in unmittelbarer Nähe ein, sind aber nicht zu hören.
Grafisch ist Crysis Remastered ein zweischneidiges Schwert: Einerseits darf man nicht vergessen, dass man es hier mit einem Spiel aus dem Jahr 2007 zu tun hat (das übrigens im August 2020 spielt, ein Jahr, das damals noch ferne Science-Fiction war und dieser Tage Gegenwart wurde). Im Jahr seines Erscheinens übergaben sich gerade PS2 und PS3 den Staffelstab in die Hände. Unter diesem Gesichtspunkt kann man nur staunend festhalten, wie halbwegs ansehnlich das Spiel immer noch aussieht.
Doch „halbwegs ansehnlich“ ist kein Attribut, das man mit Crysis in Zusammenhang bringen möchte – einem Spiel, das wie kaum ein anderes für technisches Nonplusultra steht. Die leidlich animierte Vegetation, das Fehlen moderner Licht- und Partikeleffekte, die nicht mehr ganz zeitgemäßen Charakteranimationen ... Den ewigen Spitzenreiter der Grafik-Messlatte im direkten Vergleich mit aktuellen Konkurrenten in einem lediglich zweit- bis drittklassigen Zustand zu erleben, fühlt sich an, als begegne man einem ehemaligen Olympiasieger als abgehalftertem alten Mann im Rollstuhl wieder. Crysis Remastered ist gewissermaßen der Mickey Rourke unter den Videospielen.
Denn wie zwischen den Zeilen schon durchkam und mittlerweile eh fast jeder Spieler längst weiß, ist Crysis auch spielerisch nur noch bedingt zeitgemäß. Das Sandbox-Kampfsystem und die Open-World-Ansätze setzen moderne Shooter wie Far Cry 5 und Metro Exodus deutlich zeitgemäßer und ausgereifter um, die anspruchsvolle KI eines Wolfenstein 2 lässt die von Crysis wie Vorschule wirken, und die grafische Präsentation ist trotz höher aufgelöster Texturen und kleinen Detailverbesserungen weitgehend die von einem 13 Jahre alten Spiel. Crysis wurde im Verlauf dieser Zeit seit seiner Entstehung in jederlei Hinsicht weit abgehängt – was selbstverständlich nicht verwunderlich ist. Doch ist Crysis Remastered damit heute vor allem aus spielehistorischer Sicht spielenswert. Wenngleich es immer noch durchaus Laune macht und man sich irgendwann daran gewöhnt, über die vielen offensichtlichen kleinen und großen Macken erfolgreich hinwegzusehen: Für den reinen Spaß kann man es heute nur noch bedingt empfehlen.
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