Test - Anno 1800 : Das wahrscheinlich beste Anno aller Zeiten
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Anno verfügt über eine unnachahmliche Sogwirkung. Nach fast zwei Jahrzehnten müsste doch eigentlich mal die Luft raus sein – möchte man meinen. Und zwischendurch schien es auch fast so, denn Anno 2205 war zwar ein gutes Spiel, enthielt aber einige merkwürdige Designentscheidungen, zum Beispiel dass die Seegefechte auf separaten Karten ausgetragen wurden und der Mehrspielermodus fehlte.
Mit dem Zeitalter der Industrialisierung beginnt die Welt, sich immer schneller im Takt zu drehen, den der stählerne Pulsschlag der Dampfmaschinen vorgibt. Jetzt braucht jede Frau eine Nähmaschine, jeder Gentleman ein Grammophon. Vorbei sind die Zeiten, als wir mit ein paar Säckchen Gewürzen, einigen Fass Bier und etwas frischem Brot die Bedürfnisse der braven Bürger in unseren saumselig-schnuckeligen Fachwerkstädten befriedigen konnten.
Heute verlangen die Bauern, Arbeiter, Handwerker, Ingenieure und Investoren unserer Inseln industriell gefertigte Güter aus nah und fern, aus heimischer Qualitätsproduktion sowie aus entlegenen Ecken der Erde. Dafür müssen sie aber in unseren Fabriken, Werkstätten und auf den Feldern schuften. Während Anno 1404 euch zu einem gemischten Stadtbild ermutigte, geht der aktuelle Spross der Serie einen anderen Schritt.
Hier gibt es ein Klassensystem. Die Arbeiter selbst sind jetzt Teil des Produktionsprozesses. Wir benötigen die passenden Fachkräfte für unsere Betriebe. Bauern sind für den primären Sektor zuständig, also in der direkten Rohstoffbeschaffung: Kartoffelhöfe beackern, Schafe züchten, Fische fangen, Holz fällen. Lasst ihr all eure Einwohner bis zur höchsten Stufe aufsteigen, ist niemand mehr auf dem Kornfeld oder in der Mine am Rackern und ihr habt dann ein Problem. Ein Investor wird sich kaum selbst die Finger bei der Ölförderung schmutzig machen wollen. Dies mündet zwangsweise in Lieferengpässe.
Im sekundären Sektor kommen dann die Arbeiter zum Einsatz: Wer Schweine zu Wurst oder Eisenerz zu Stahl verarbeiten möchte, kommt um die Männer mit den Arbeitskitteln und den ölverschmierten Fingern nicht herum. Das Gleiche gilt für die höheren Gesellschaftsschichten, deren extravagante Bedürfnisse ganz Anno-typisch über immer kompliziertere Warenproduktionsketten erfüllt werden müssen.
Schuster, bleib bei deinen Leisten
Der Faktor Arbeitskraft ist spieltechnisch eine der größten Neuerungen in Anno 1800, das sich ansonsten für Kenner der Reihe sehr angenehm wie die geliebten Vorgänger 1404 und 2070 anfühlt. Dabei ist 1800 gerade beim Einwohnermanagement noch formelhafter und besser kalkulierbar als in den älteren Teilen: Die eben erwähnten Bedürfnisse der Bevölkerung sorgen nicht einfach nur Pi mal Daumen für gute oder schlechte Stimmung und damit Bevölkerungswachstum, wenn sie erfüllt oder vernachlässigt werden.
Stattdessen bedeutet es ganz konkret, dass etwa in einem halbvollen Arbeiterhäuschen, das maximal Platz für 20 Arbeitskräfte bietet, genau drei Leute mehr einziehen werden - also bis zu 13 von 20 -, sobald die Versorgung mit Wurstwaren gesichert ist. Damit schnurrt in der Maschinenhalle von Anno 1800 die gleiche erprobte Maschine, die in den Vorläufern seit mittlerweile Jahrzehnten die Spieler motiviert: Bewohner versorgen, auf diese Weise neue Gebäude für neue Warenketten freischalten und damit noch mehr Bewohner unterhalten können.
Alle Spielelemente ordnen sich diesen zentralen Anno-Mechaniken unter, und das bedingt, dass wir statt stolzer Handelskoggen oder futuristischer Containerfrachter eben Teeklipper und Handelsschoner mit und ohne Dampfantrieb über die Meere schippern lassen.
Apropos Dampfantrieb: Die für das 19. Jahrhundert so einschneidend prägende Eisenbahn nimmt in Anno 1800 zwar auch eine tragende Funktion ein, allerdings ausschließlich für den Rohstoff Erdöl. Erdöl wird für das Betreiben von Kraftwerken benötigt, ist allerdings zu schwer für den Transport mit Pferdekarren auf der Straße. Daher benötigen wir Eisenbahnstrecken von der Ölförderung zu den Kraftwerken, um eine Belieferung mit dem Brennstoff sicherzustellen. Dadurch spielt die Eisenbahn nur eine Nebenrolle für einen einzigen Warentyp.
Holz gegen Stahl
Viel wichtiger sind die Schiffe, die für Warentransport, Handel, Erkundung, Piratenabwehr, Krieg, Questaufgaben und Expeditionen in die Neue Welt zuständig sind. Es gibt sie in allen erdenklichen Varianten, die im 19. Jahrhundert die Meere befuhren. Besonders schön ist, dass die Anno-Entwickler die rasante Entwicklung abbilden, die bei den Kriegsschiffen dieser Zeit stattfand. So habt ihr die Möglichkeit, gigantische Segellinienschiffe zu bauen, die mit markerschütternden Breitseiten ihrer Vorderladerkanonen nicht zu unterschätzen sind. Ihr könnt aber auch auf moderne Panzerkreuzer mit Schraubenantrieb und drehbaren Turmgeschützen setzen.
Wer das jetzt für historisch fragwürdiges Anachronismusgemurkse hält, möge bedenken: In der Seeschlacht von Lissa, bei der die Österreicher 1866 gegen die Italiener kämpften, kam auf beiden Seiten genau so ein wilder Mischmasch aus alter und neuer Seekriegstechnik zum Einsatz. Panzerschiffe gegen dampfbetriebene Großsegler, dazu noch alle Arten von kleineren Kanonenbooten. Ein österreichisches Holzschiff - die SMS Kaiser - nahm es dabei heldenhaft mit vier italienischen Panzerkreuzern auf und überlebte sogar. Die Entwickler bleiben also in ihrer Ära durchaus bei einem historischen Vorbild und können so interessante Seegefechte bieten.
Diese finden - Neptun sei Dank - erneut direkt in der Spielwelt statt und nicht auf ausgelagerten Kampfzonen wie in 2205. Somit lassen sich Inseln wieder erobern und verteidigen. Dicke Geschützbatterien zum Sichern der eigenen Häfen stellen daher ab einem bestimmten Zeitpunkt im Spiel eine notwendige Investition dar. Fällt das Hafengebäude nämlich, wechselt die ganze Insel den Besitzer. Eine Besetzung mit Landtruppen ist in Anno 1800 nicht vorgesehen.
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