Test - Tell Me Why : Ein wichtiges Thema - ein wichtiges Spiel
- PC
- One
Zitternd, unter Tränen, angsterfüllt sitzt ein junges Mädchen einem Polizisten gegenüber. Was die kleine Olli gerade durchmachen muss, will niemand miterleben. Ihre eigene Mutter wurde getötet. Doch die eigentliche Tragödie lautet: Ollie ist selbst die Mörderin.
Alles, was in den folgenden Stunden in Tell Me Why (daher auch sein Titel, zu Deutsch: „Sag mir, wieso!“) passiert, dreht sich um diesen schrecklichen Moment, als Ollie ihr Verbrechen gesteht, das in Wirklichkeit Notwehr war. Doch ist das die Wahrheit? Jahre später ist Ollie erwachsen und stellt sich wie auch uns die Frage, ob wir ihrer Erinnerung trauen können.
Aber etwas ist anders: Das einst kleine Mädchen ist mittlerweile ein junger Mann und nennt sich Tyler – und wir spielen ihn in diesem etwas anderen Adventure, das sich mehr als hochsensibles Familiendrama denn als tatsächliches Videospiel offenbart.
Der französische Entwickler Dontnod, der bereits mit den Lifeis-Strange-Spielen ungewöhnliche Themen anstieß, geht mit Tell Me Why ein großes Wagnis ein. Zum ersten Mal in einem Videospiel abseits kleiner Indie-Produktionen spielen wir einen Transgender-Charakter. Damit dieser ambitionierte Schritt nicht nach hinten losgeht, legte das Studio besonders viel Wert auf Authentizität. Unter anderem ließen sich die Macher von der LGBTQ-Vereinigung GLAAD beraten.
Doch der Spieler schlüpft nicht nur in die Haut des Transmanns Tyler Ronan, der auch ein Stück weit seine Identität noch nicht ganz gefunden hat, sondern darf zeitweise auch seine Zwillingsschwester Alyson steuern. Sie war an jenem schicksalhaften Abend dabei, der ihr Leben für immer verändern sollte. Doch seitdem trennten sich die Wege der Geschwister, die nun zehn Jahre später zum ersten Mal wieder aufeinander treffen.
Achterbahnfahrt der Gefühle in Häppchenform
An dieser Stelle setzt Tell Me Why ein, das wie schon zuvor Life is Strange in Episoden unterteilt wird. Dontnod wählt diesmal jedoch einen kompakteren Weg und trennt das Spiel in lediglich drei Kapitel, die im Wochenrhythmus sehr viel schneller aufeinander folgten und daher bereits alle verfügbar sind. Knapp ein Jahr bis zum Finale warten zu müssen wie beim geistigen Vorgänger, fällt zum Glück also weg.
Tyler kehrt zu Beginn des ersten Kapitels - jede Episode dauert in etwa zwei bis drei Stunden - zum ersten Mal wieder an den Ort seiner Kindheit zurück: das idyllische Städtchen Delos Crossing in Alaska. Zunächst will er einfach nur seine Schwester Alyson wiedersehen, ohne dabei die dunkle Vergangenheit wachzurufen. Unter anderem soll das alte gemeinsame Haus verkauft werden.
Aber dann werden die Zwillinge doch wieder von ihrer Kindheit eingeholt. Alte Wunden werden aufgerissen, neue Geheimnisse kommen ans Licht und schließlich droht das Band zwischen Tyler und Alyson zu zerreißen, als beide mehr und mehr von ihrem Schmerz und ihren traumatischen Erinnerungen aufgefressen werden. Ein emotionaler Kraftakt, der auch an uns nicht spurlos vorbei geht. Speziell die letzte Episode schlägt einem mit der Gefühlswelt von Alyson in die Magengrube.
Der Transgender-Ansatz gelingt
Alldem wird zusammen mit der (sehr hübschen) dezenten Comic-Optik eine befremdlich melancholische Grundstimmung entgegengesetzt, die mit der verschlafenen Kleinstadt und der weltentrückten Musik zuweilen an die Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht erinnert – die ebenfalls nicht davor zurückschreckte, schwierige Themen mit jungen Protagonisten anzusprechen. Was den Stoff angeht, geht das Konzept hier sogar deutlich besser auf, denn die Autoren verstehen es geschickt, den in Videospielen bisher gemiedenen Transgender-Stoff sehr erwachsen und unaufdringlich aufzuarbeiten.
So wird dem Spieler langsam der Charakter von Tyler nähergebracht. In der ersten Episode ist eine Weile lang zunächst auch gar nicht so klar, welche der beiden kleinen Schwestern denn nun eigentlich die große Veränderung wagte – auch weil Dontnod aus diesem Umstand keine so große Sache macht, wie man vielleicht erwartet hätte. Umso effektiver entlarvt das Spiel damit zugleich eventuelle Vorurteile des Spielers.
Eine große Sache war es hingegen für Tylers und Alysons Mutter, die – wie sich herausstellt – offenbar mit den maskulinen Neigungen ihrer Tochter überhaupt nicht zurechtkam. Warum wollte Mary-Ann (die Zwillinge nennen ihre Mutter übrigens auch durchgehend sehr kühl nur beim Vornamen) ihr Kind nicht akzeptieren? Warum flippte sie schon aus, als Ollie sich lediglich die Haare kurzschneiden wollte? Oder spielt hier die Erinnerung allen nur einen Streich? Und was hat der schweigsame Polizeichef Eddie mit alldem zu schaffen, und wieso wollte Mary-Anns frühere Freundin Tessa ihr unbedingt die Kinder wegnehmen? Diese Fragen ziehen sich wie ein roter Faden durch die drei Kapitel, in denen Tyler und Alyson immer tiefer in ihre dunkle Kindheit eintauchen, die sie eigentlich begraben wollten.
Tell Me Why nimmt den Spieler mit auf eine Reise, die sowohl mit der Vielfalt der Figuren, aber vor allem durch ihre Ambivalenz fasziniert: Die Rückblicke, Erlebnisse und Gefühle, die wir mit den Ronans teilen, sind rein subjektiv. Was davon tatsächlich so geschehen ist, lässt sich nur mutmaßen. Immer wieder wechseln wir innerlich die Seiten und Sympathien für die beiden Protagonisten, ein ständiges Gefühl der Unsicherheit umgibt uns.
Die besondere Verbindung zwischen Tyler und Alyson gewinnt sogar eine metaphysische Bedeutung, wenn die Spielfiguren plötzlich wortlos miteinander kommunizieren. In einigen Schlüsselmomenten können sich die Zwillinge nämlich rein über ihre Gedanken unterhalten. Erneut verleihen Dontnod ihrem menschlichen Drama also einen Hauch von subtil eingestreuten übernatürlichen Elementen, wie sie es in ähnlicher Form schon in Life is Strange mit dem Zurückdrehen der Zeit taten.
Wie glaubhaft ist eine Erinnerung?
Einen weiteren zentralen Bestandteil von Tell Me Why bilden kleine Flashbacks, die allerdings nicht in Form von Zwischensequenzen, sondern mitten in der gegenwärtigen Spielwelt auftreten. Immer, wenn Tyler und Alyson ein bestimmtes Detail auffällt, können wir auf Tastendruck eine kleine Erinnerung auslösen. Manchmal müssen wir dabei entscheiden, ob wir uns eher auf die Gedanken von Tyler oder die seiner Schwester verlassen wollen. Viel mehr bietet Tell Me Why spielerisch nicht. Denn genau wie schon in Life is Strange legt Dontnod den Schwerpunkt eindeutig auf das Erzählen der Geschichte und inszeniert diese als interaktiven Film.
Einen Schlüssel suchen, um eine verriegelte Tür zu öffnen, gehört schon zu den komplexesten Kombinationen, die wir meistern müssen. Am meisten Grips fordert das Spiel dann noch, wenn wir zum sogenannten Buch der Kobolde greifen müssen. Das ist eine Sammlung von Fantasiegeschichten, die sich die Geschwister mit ihrer Mutter einst ausgedacht und zu Papier gebracht haben. Vor ihrem Tod hat Mary-Ann nämlich ihre Geheimnisse sorgfältig versteckt. Jedesmal, wenn es eines ihrer Mysterien aufzudecken gilt, gibt das Buch Hinweise auf die Lösung.
Häufig handelt es sich hierbei aber nur um ziemlich banale Minispiele. Erst ganz am Ende müssen wir aufmerksam durch das Koboldbuch blättern, um die Zusammenhänge zu verstehen und eine kurze Kette von Rätseln zu meistern. Davon abgesehen erledigen wir zwischendurch Einkäufe, angeln ein paar Fische und machen Inventur im Supermarkt.
Die meiste Zeit über macht der Spieler ohnehin recht wenig. Gerade in der ersten Stunde vergisst man gar gerne mal, dass es sich hier überhaupt um ein Spiel handelt. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich schon mehrere Minuten lang zurückgelehnt einfach nur der Geschichte wie einem Film folgte, ohne auch nur einen Finger bewegt zu haben. Darf ich mich dann endlich mal wieder durch die Spielwelt bewegen, sind es meist nur wenige Meter.
Dontnod wandelt dadurch auf einem schmalen Grat, der die spielerische Tiefe zugunsten einer wendungsreichen Geschichte vernachlässigt. Denn erzählerische Überraschungen und unvorhergesehene Entwicklungen gibt es einige in Tell Me Why. Jede der drei Episoden stellt Vieles von dem, was wir von der Handlung bislang verraten haben, wieder auf den Kopf und taucht diverse Figuren in ein ganz neues Licht. Hinter der Story-Fassade ist nur keine wirkliche Mechanik erkennbar. Bisweilen gebärdet sich Tell Me Why als typisches „Serious Game“, dem seine pädagogische oder lehrreiche Botschaft wichtiger ist als der spielerische Mehrwert. Manch einem mag das zu wenig sein.
Doch diese Diskussion kennen Fans von Life is Strange bereits. Die emotionale Schlagkraft ihres früheren Werks erreicht Dontnod aber nicht. Die Entwickler halten sich diesmal deutlich mit extremen Themen wie Suizid und Drogenkonsum zurück. Überhaupt schlägt die Geschichte ganz bewusst sehr viel leisere Töne an und schafft es dennoch oder gerade deshalb zu berühren. Eine kluge Gangart der Entwickler, denn so gewinnt Tell Me Why eine für Videospiele seltene Bodenständigkeit.
Kommentarezum Artikel