Test - Stranger Things VR : Test: Horror-Mindfuck vom Feinsten
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Es war schon immer interessant, bei einem Videospiel auf der Seite der Bösen zu stehen. Allerspätestens seit Command & Conquer und den Wario-Jump-and-Runs gilt ein solcher Perspektivwechsel nicht nur als einflussreiches spielerisches Stilmittel, sondern auch als erzählerisches, das neue Facetten einer Geschichte offenlegen kann. Im VR-Game zu Stranger Things, das exklusiv auf Meta Quest 2 und 3 zu haben ist, wird aus diesem Ansatz ein irrer Fanservice.
Dazu sei gesagt, dass man auch ein echter Fan der Netflix-Serie sein sollte, sonst geht beinahe alles an erzählerischen Feinheiten an euch vorbei. Dieses Spiel macht euch nicht zu Stranger-Things-Fans. Es saugt euch lediglich noch etwas tiefer in das Universum hinein, wenn ihr die Serie schon längst auswendig kennt.
Nehmt diese Warnung ernst. Ohne Kenntnis der Netflix-Serie habt ihr nicht den geringsten Schimmer, um wen es geht, wo alles stattfindet, wer beteiligt ist oder wie es ausgehen könnte. Kontext? Ist überbewertet. Exposition? Was für Anfänger! Verdammt, selbst als Kenner zieht man sich manchmal die VR-Brille vom Gesicht und muss erst einmal rekapitulieren: wo genau war die letzte Szene noch mal relevant?
Entgegen unserer üblichen Intention können wir euch also abraten, den Test weiterzulesen, wenn es beim Namen Vecna nicht klingelt. In dem Fall versteht ihr sowieso nur Bahnhof. Hat aber auch den Vorteil, dass wir nicht so viel erklären müssen. Außer vielleicht, dass der Oberbösewicht, der erst in der vierten Staffel auftrat, schon immer ein Teil der Erzählung war. Er agierte im Geheimen und wartete in seiner schrecklichen Zwischenwelt auf den richtigen Moment. Und genau das erlebt ihr in Stranger Things VR nach.
Interaktiver Rückblick auf die letzten beiden Staffeln
Ein wenig Gehirnverknotung müsst ihr allerdings ertragen können, denn das VR-Erlebnis verläuft weder erzählerisch linear noch lässt es euch Zeit zur Eingewöhnung. Nach einem kurzen Tutorial, das euch gerade mal erklärt, wie ihr telekinetisch mit eurer Umwelt interagiert, springt ihr fast schon beliebig zwischen zwei typischen Erzählformaten hin und her. Dabei geht es um Actionpassagen, in denen ihr euch als Vecnar durch die als „andere Seite“ bekannte Zwischenwelt bewegt (im Original „The Upside Down“), und um interaktive Rückblicke auf Szenen der Serie, die euch zeigen, aus welchem Blickwinkel Vecnar die Geschichte miterlebt, beziehungsweise wie er die Handlungen unserer liebgewonnenen Hauptfiguren Eleven, Will, Dustin und Co. mit seinen Plänen verknüpft.
Vecnar zapft dabei Gefühle und Gedanken an, was natürlich nur visuell vermittelt werden kann, aber nicht minder cool ist, weil das Gedankenpuzzle, das ihr zusammensetzt, zum Kern der Handlung wird. Psychedelisch, teils makaber und doch Neugier erweckend deckt die Handlung allerhand Motivationen von Freund und Feind auf. Interaktionsmöglichkeiten gibt es in diesen Passagen nicht viele, aber ihr müsst herausfinden, was genau zu tun ist, und das ist nicht immer einfach.
Angesichts einer Spielzeit von gerade mal fünf Stunden wäre jeder Spoiler einer zu viel, aber seid euch Gewiss: ihr werdet interessante Hintergrundinformationen erfahren, die euch das ein oder andere Mal mit einem „Eureka!“ aufhorchen lassen. Das meiste betrifft die letzten beiden Staffeln der Serie, aber es kommen auch Dinge zur Sprache, die Umstände aus der ersten Staffel näher erläutern.
Sind da retroaktive Kunstgriffe dabei? Natürlich! Quasi Tipp-Ex für das Drehbuch. Oder neudeutsch gesagt Goalpost-Verschiebungen, welche Ungereimtheiten aus der Serie schaffen, die in der ersten Staffel noch nicht genau ausgearbeitet waren und im fortlaufenden Handlungsstrang zu Widersprüchen führten. Wahrscheinlich die beste Form von Fanservice, die man sich denken kann, sofern man denn ein Meta-Quest-2- oder Quest-3-Headset besitzt.
Der rote Horror
Und nicht zu vergessen: gute Nerven. Trotz stark vereinfachter, manchmal überaus abstrakter Cel-Shading-Grafik, die der inhaltlich fantastischen, wenn auch optisch eher realistisch veranlagten Stranger-Things-Grundlage manchmal keinen Gefallen erweist, geht es nicht gerade zimperlich zu. Blut ist kein Thema, aber fürchterliche Monster, grausam sterbende Familienmitglieder, Knochenbrüche und andere explizit choreografierte Brutalitäten im Verbund mit einem ekelerregenden Grunddesign aus undefinierbarer roter Masse, schwarzen Tentakeln und aus diversen Öffnungen sickernden, schleimigen Flüssigkeiten rechtfertigen die USK-18-Wertung allemal. Für Kinder und zartbesaitete Jugendliche ist das nichts. Schon gar nicht in virtueller Realität.
Leider holt das Grauen auch Erwachsene an mancher Stelle ein, wenn es um den spielerischen Anteil geht. Der ist zwar interessant, aber etwas repetitiv und nicht besonders gut geschliffen. Ihr steuert Vecnar in Ego-Perspektive mithilfe von Tentakel-Auswüchsen durch die „andere Seite“, was weniger an Tarzan erinnert als an Dr. Octopus aus den Spider-Man-Comics. Ihr haltet euch also mit sehr langen Tentakel-Armen an eindeutig markierten Massebrocken im roten Nichts fest und zieht euch durch Handgesten durch die Gegend. Das funktioniert grundsätzlich ganz gut und bereitet vor allem dann Spaß, wenn ihr euch mit Schwung auf eine höhere Plattform schleudern sollt oder anderweitig Geschwindigkeit aufnehmt.
Vecnars Ziel ist die Rückeroberung dieser Zwischendimension, die von Monstern überflutet wurde. Dabei erkundet er zugleich deren Innerstes. Verlaufen könnt ihr euch dabei nicht, weil es keine Abzweigungen gibt, und von echter Immersion in Vecnars Körper kann man nicht sprechen, weil alles viel zu abstrakt erscheint. Aber das Spielerlebnis ist dennoch ein bemerkenswertes. Es ist eben strange, wenn nicht sogar total abgefahren. Allein, wenn Vecnar sich in den Geist eines Monsters hineinzieht, was visuell ebenso irre erscheint, vergisst man schnell, wo oben und unten liegt.
Kampfhandlungen fallen dagegen mühsam und ungenau aus und frustrieren leider aufgrund einer groben Regelung für das Anvisieren von Gegnern. Ihr verteidigt euch beispielsweise durch das Aufheben von frei herumliegenden Gegenständen oder das Abbauen von weichen Masseteilen. Die müsst ihr erst zu eurem Körper ziehen und dann mit festem Schwung auf einen Gegner schleudern. Theoretisch hilft euch eine semi-automatische Zielvorrichtung dabei. Ihr müsst also nur grob in die richtige Richtung werfen, um einen Gegner zu treffen.
Nur sieht die Praxis leider ganz anders aus, weil die Zielvorrichtung manchmal nicht greift – aus kaum nachvollziehbaren Gründen. Letztendlich müsst ihr also viel öfter Wurfgegenstände aus der Gegend fischen als die Theorie es vorgibt, und da stärkere Gegner mehrere Treffer einstecken, bevor sie sterben, rudert ihr gelegentlich ganz schön in der Gegend herum.
Geister-Tauchfahrt vs. einfache Präsentation
Die Frage ist nun, ob ihr euch davon abschrecken lasst. Letztendlich kann man sämtliche Kampfhandlungen als Füllmaterial ansehen, und sie fallen ja auch nicht furchtbar schlecht aus, sondern „nur“ etwas ungeschliffen. Würdet ihr euch deswegen einen stylischen Mindfuck entgehen lassen, bei dem ihr euch als Vecnar in den Geist eines Lebewesens einsaugt, sein Innerstes in Form eines abstrakten Tunnels erkundet und euch dann im Querverweis auf eine längst vergessene Erinnerung wieder ausspucken lasst? Würdet ihr euch einem vollendeten Fan-Service verweigern, nur weil er sich gelegentlich etwas hakelig spielt oder optisch eher auf Stil als auf reine Power setzt?
Wie zuvor erwähnt vermittelt die Cel-Shading-Grafik diesen Trip aus Horror und psychedelischen Flashbacks leider etwas unterkühlt. Mehr als einmal wünschten wir uns einen realistischeren Anstrich, gespeist von einer fetten PC-Grafikkarte. Da Stranger Things VR aber als Standalone-Game in Meta Quest 2 und 3 funktionieren muss, bleibt nichts übrig, als sich mit dem Cel-Shading zu arrangieren.
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Nicht einmal die schönen (teils glibberig oder glitschig wirkenden) Wände samt Glanzeffekte und die einfach wiedererkennbaren Charaktermodelle aus der Serie können über diese Designentscheidung hinwegtrösten. Aber wenn das für euch kein Gamebreaker ist, findet ihr in der Präsentation viel Sehens- und Hörenswertes, weil selbst Nebensächlichkeiten oft bis zum letzten Pixel durchdesignt wurden.
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