Test - Lil’ Guardsman : Test: Papers Please als charmante Fantasy-Comedy
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„Papers, please!“ als Fantasy-Sitcom – auf diese griffige Formel ließe sich Lil’ Guardsman für Wortkarge bringen. Denn genau wie im mittlerweile schon zehn Jahre alten Indie-Klassiker entscheidet ihr als Wache an einem Grenzübergang darüber, wer passieren darf und wer nicht. Nun aber nicht als düstere Mahnung in einem Unrechtsstaat, sondern in Form einer heiter-chaotischen Mittelalter-Comedy zwischen Monkey Island und Harry Potter.
Die kleine Lilith – oder kurz einfach nur: Lil – muss für ihren Vater als Wache am Stadttor einspringen. Dort obliegt ihr die verantwortungsvolle Aufgabe zu entscheiden, wer passieren darf oder für wen es heißt: wir müssen draußen bleiben. Denn Diebe und Monster haben in dem beschaulichen Mittelalter-Städtchen nichts verloren, während tapfere Helden und großzügige Spender für die königliche Schatzkammer höchst willkommen sind.
Drei „Züge“ habt ihr dabei jeweils Zeit, um herauszufinden, ob es sich bei dem Passanten um ein ehrbares Mitglied der Gemeinschaft handelt oder er sich doch als gemeingefährlicher Betrüger entlarvt. Hierzu stellt ihr tückische Fangfragen und müsst an seinen Antworten und Reaktionen genau beobachten, ob sich euer Gegenüber in Widersprüche verstrickt oder etwas zu verheimlichen scheint.
Für besonders harte Brocken steht euch bzw. Lil ein kleines Arsenal an technischen Gerätschaften zur Verfügung, das aber mit Bedacht eingesetzt werden will, da sie nicht endlos oft eingesetzt werden dürfen: Das Wahrheitsspray etwa enttarnt die wahren Absichten von falschen Fuffzigern, der Metalldetektor findet versteckte Waffen und das Röntgengerät deckt so manch verborgenes Geheimnis auf.
„Einspruch!“ in Mittelerde
Lil’ Guardsman gehört dem Genre der „deductive Adventures“ an, wie eben der Indie-Klassiker Papers, Please!, aber auch den etwas weiter entfernten Verwandten der Ace-Attorney-Reihe, in denen ihr Befragungen durchführen und Hinweise deuten müsst, um durch Deduktion der Auslegung aller zur Verfügung stehenden Informationen am Ende die möglichst richtige Schlussfolgerung zu ziehen.
Die freundliche Omi mit dem Apfelkuchen etwa macht nur auf den ersten Blick einen netten und kinderlieben Eindruck, offenbart sich bei genauerer Betrachtung aber als garstige Hexe mit mörderischen Absichten. Der edle Ritter, der zur Hochzeit der Prinzessin seine Aufwartung macht, erweist sich als Hochstapler, hinter dessen Fassade vom handsome Prinzen sich lediglich ein peinlich verliebt schmachtender Verehrer von niederem Stand verbirgt. Und der schrullig verplante Zauberer mag zwar tatsächlich einen wichtigen Termin bei der Magiergilde haben, sein mitunter wirres Gefasel erweckt aber den dringenden Verdacht, dass es sich bei den Kräutern in seiner Tasche nicht gerade um Rosmarin und Thymian handelt, sondern um fragwürdige Substanzen, die vor dem Eintreten besser konfisziert gehören.
Den Entwicklern von Lil’ Guardsman gelingt auf bewundernswerte Weise die schmale Gratwanderung, diese Art von Rätsel immer neu zu variieren, zunehmend in der Komplexität zu steigern, ohne dabei den Schwierigkeitsgrad irgendwann in ermüdende Trial-&-Error-Schleifen zu zurren, wie es bei den Ace-Attorney-Spielen mitunter der Fall ist oder etwa The Return of the Obra Dinn ab einem bestimmten Punkt maßgeblich kennzeichnet. Wer völlig auf dem Schlauch steht, der kann sich zudem jederzeit Rat durch einen Telefonanruf bei Lils Vorgesetzten einholen, die dezent verschwurbelte Hinweise auf die Lösung murmeln, oder spult gar per handlicher Zeitmaschine an einen beliebigen Moment eines Kapitels zurück, um es erneut zu versuchen und besser zu machen.
Ein völliges Richtig oder Falsch gibt es in Lil’ Guardsman eh nur bedingt. Denn letztlich löst ihr mit jedem Fall nicht lediglich ein spielerisches Rätsel, sondern trefft vor allem auch eine Entscheidung, die das weitere Geschehen und die Geschichte beeinflusst, fällt mit eurem Urteil nicht nur eine Wahl über das Wohl und Wehe des jeweiligen Passanten, sondern stellt damit auch die Weichen für Lils Schicksal und das der ganzen Fantasy-Welt, legt darin ihre Persönlichkeit fest und trefft letztlich vor allem eine Aussage über eure eigene: Neigt ihr zu sturem Pflichtgehorsam oder lasst ihr euch von Mitgefühl leiten, folgt ihr einer Maxime vom größtmöglichen Eigennutzen oder handelt ihr aus Solidarität und Selbstlosigkeit heraus?
Beim Eintreffen der Bewerber um die Hand der Prinzessin etwa könnt ihr diese, wie euch per Dekret geheißen, passieren lassen. Oder aber ihr nehmt das Bestechungsgeld des einen an, der euch darum bittet, den anderen abzuweisen. Das bringt euch dann zwar eine Menge Goldstücke ein, die sich für das Verbessern der Ausrüstung verwenden lässt, doch möglicherweise auch eine drakonische Strafe, wenn eure Vorgesetzten davon Wind bekommen. Womöglich gewinnt ihr dadurch einen mächtigen Verbündeten am Hofe, der euch später einen Gefallen schuldet, schafft euch aber andererseits auch einen noch mächtigeren Feind. Sonderlich sympathisch sind sie alle beide ohnehin nicht – solltet ihr sie daher vielleicht gleich beide fortschicken und stattdessen eher dem liebenswerten Hochstapler und verträumten Tunichtgut eine unverhoffte Chance als lachendem Dritten verschaffen?
Lil’ Guardsman enthält zahllose solcher Situationen, die sich im weiteren Handlungsverlauf allesamt mal groß, meist eher klein, aber in jedem Fall spürbar bemerkbar machen. Zwischen euren Arbeitsschichten, die das Spiel in einzelne Tage und damit Kapitel gliedern, sucht ihr die verschiedenen Lokalitäten der Stadt auf: die Taverne, in der sich die Bevölkerung nach Feierabend zum ausgelassenen Umtrunk versammelt, das Sportstadion, die Koboldgilde oder auch das Gefängnis, in dem die Mitbürger einkerkern, deren üble Absichten ihr am Tag zuvor aufdecken konntet.
Dort trefft ihr sie dann alle wieder: die Personen, deren Pass ihr gestempelt habt, und erlebt, wie ihre Geschichte durch eure Entscheidungen weiter geht. Der Prinz etwa, dessen Bestechungsversuch ich kurz zuvor abgelehnt habe, macht bei einem Krug Bier seinem Unmut über mein Vorgehen Luft, woraufhin ich erneut vor einer Wahl stehe: Weise ich ihn lediglich mit einem schlagfertigen Spruch zurecht? Oder bezichtige ich ihn der Beamtenbestechung und ziehe schlitzohrig denselben Betrag als Bußgeld ein - was quasi alle Fliegen mit einer Klappe schlägt? Es liegt an euch. Ich habe übrigens nochmal ein Auge zugedrückt, seinen üblen Charakter aber später beim Mädelsabend mit der Prinzessin verpetzt, was sie dazu veranlasste, seinen Heiratsantrag abzulehnen, und er mich daraufhin zu seinem Todfeind erklärte. Pff, Männer ...
A Tale of Two Destinies
Denn letzten Endes ist Lil’ Guardsman eben nicht nur ein pfiffiges Rätselspiel, sondern vor allem auch eine charmante interaktive Geschichte, deren Verlauf ihr durch euer Tun ständig in unterschiedliche Bahnen lenkt. Schon bald wird Lil nämlich durch ihre ständigen Befragungen gewahr, dass in dem kleinen Königreich heimliche Strippenzieher die Fäden in der Hand halten, die die zunehmenden Unruhen im Land zu nutzen trachten, um die eigenen Interessen durchzusetzen und nach der Macht zu streben. Als es dann schließlich gar zum Krieg mit einem der Nachbarstaaten kommt, obliegt es Lil allein, die zwielichtigen Machenschaften aufzudecken, den Frieden zu bewahren oder die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Ganz schön viel Verantwortung für eine Zwölfjährige …
Darin besteht nämlich die eigentliche charmante Besonderheit von Lil’ Guardsman: ein solches Klischee von Fantasy-Epos mal nicht aus Sicht der Helden und Könige, der Magier und Schurken zu erleben, sondern aus der Perspektive eines frechen und unbedarften Kindes, das alle verfeindeten Seiten mit Gewitztheit und Chuzpe, mit Listigkeit und letztlich vor allem dem Herzen am rechten Fleck gegeneinander ausspielt. In gewisser Weise ist Lil die unangepasste Pippi Langstrumpf von Fantasyhausen, die der selbstgefälligen Welt der ach so neunmalklugen Erwachsenen mit den Mitteln und der Attitüde eines rebellischen Teenagers den Spiegel vorhält und so ihren aufgeblasenen, trügerischen Schein entlarvt.
Oder sich einfach nur scharfzüngig darüber lustig macht. (Übrigens hervorragend englisch vertont.) Die Entwickler nennen als Vorbild für ihren Humor Einflüsse wie Monkey Island, Monty Python und Die Simpsons, und auch wenn sie damit die Erwartungshaltung auf eine Messlatte legen, die ein Stück zu hoch für sie hängt, ist es gerade Lils geradezu entwaffnend trockener Witz, der hinter der bloßen Nummernrevue und Parodie auf gängige Fantasy-Klischees immer wieder die in scharfzüngigen Humor gegossene Bissigkeit einer politischen Satire durchschimmern lässt.
Denn nicht zuletzt schreibt Lil’ Guardsman zwischen den Zeilen seiner harmlos scheinenden Posse vom Grenzbürokraten mit der Macht des Stempelkissens über Einbürgerung und Abschiebung auch einen hintersinnigen, aber niemals aufdringlichen Kommentar zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten über Migration, Fremdenfeindlichkeit und Nächstenliebe.
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Zum unvergesslichen Indie-Meisterwerk fehlt Lil’ Guardsman unterm Strich allenfalls der letzte Funke Genialität, all die hohen Ansprüche seiner Entwickler in perfekter Synergie aufgehen zu lassen: der alles entscheidende Biss seiner Satire, der ohrenbetäubende Knalleffekt seiner Pointen, vielleicht auch einfach nur dieses eine Musikstück, das man nicht mehr aus dem Kopf kriegt, dieser eine herzzerreißende Moment, der einen nicht mehr loslässt, oder der überwältigende WTF-Moment im epischen Finale, der Lils etwa 8-stündiges Abenteuer von einem Erlebnis, das man genossen hat, zu einem hätte werden lassen, das man für immer ins Herz schließt. Aber hey, allein die göttliche Szene mit der Belle-Parodie auf Die Schöne und das Biest, die sich ausschließlich in kitschigen Musical-Nummern auszudrücken weiß, ist jetzt schon ein ganz heißer Anwärter auf den coolsten Gaming-Moment 2024.
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