Test - Harveys Neue Augen : Mehr Zynismus geht nicht

Spielentwickler gehen bei Fortsetzungen meist auf Nummer sicher, um es sich nicht mit den Fans zu verscherzen. Andererseits wird ihnen dann häufig von den Gralshütern der Innovationslehre Ideenlosigkeit vorgeworfen. Harveys Neue Augen könnte als Nachfolger von Edna bricht aus kaum mehr gegen den Strom schwimmen: Mit einer völlig neuen Spielfigur und einem innovativen Spiel-Feature entfernt es sich erstaunlich weit von Sicherheit und Gewöhnlichkeit.

Das harte Leben einer Klosterschülerin

Arme Lilli: Die strenge Oberin Ignatz versteht keinen Spaß, vergibt eine Aufgabe nach der anderen und nimmt kein Blatt vor den Mund, sobald sie ihre Enttäuschung und ihren Frust gegenüber den Kindern der Klosterschule zum Ausdruck bringt. Es ist wahrlich kein Zuckerschlecken für das kleine Mädchen, zumal sie ihre Mitschüler nicht für voll nehmen und sie kaum Freunde hat.

Die einzige Ausnahme ist Edna, die seit ihrer Flucht aus der Anstalt (siehe Edna bricht aus, den Test findet ihr hier ebenfalls in der Klosterschule lebt. Doch diese Freundschaft wird nun auf eine harte Probe gestellt: Ednas ehemaliger Psychiater Doktor Marcel ist ihr anscheinend auf den Fersen. Deshalb bittet sie Lilli um Hilfe, um nicht von ihm entdeckt und vor einem weiteren Aufenthalt in der Anstalt bewahrt zu werden.

Uugi Wuugi

Unwissende fragen sich jetzt vielleicht: Wer ist denn nun dieser Harvey mit den neuen Augen? Harvey ist ein Stoffhase, ebenfalls bekannt aus dem Vorgänger, mit dem Edna damals die Flucht angetreten ist. Er spielt in Harveys Neue Augen eine völlig andere Rolle, über die wir euch nicht allzu viel verraten möchten. Nur so viel: Irgendwann taucht das Kerlchen in Form einer Hypnosepuppe auf, die Lilli in Trance versetzt und ihr mehrere Regeln aufdrückt. Sie darf dann beispielsweise keine Lügen erzählen und muss Erwachsenen immer gehorchen.

Folgerichtig gilt es, diese Verbote irgendwie auszuhebeln, denn ansonsten stoßt ihr während eures Abenteuers immer wieder auf unüberwindbare Probleme. Wie wollt ihr, bitteschön, eine Fackel anzünden, um eine dunkle Ecke zu erleuchten, wenn die Hypnose euch bereits am Feuermachen hindert? In der Tat lernt ihr nach und nach, die Verbote zu negieren, indem ihr Lillis Psyche mit weiteren Hypnosesitzungen austrickst.

Nun gibt es theoretisch einen Haken an diesem Konzept: Ihr dürft immer nur eines der Verbote, die ihr bekämpft habt, zur gleichen Zeit deaktivierten. Doch praktisch haben es die Entwickler versäumt, dies als echten Pferdefuß umzusetzen. Letztlich sind die Rätsel so aufgebaut, dass in keiner Situation mehr als ein Verbot abgeschaltet sein muss.

Harte Realität rosarot verpackt

Allgemein sind die Rätsel eher zu einfach als zu schwer, was am ehesten Genre-Veteranen stören könnte. Die freuen sich dafür aber umso mehr über die grandios in Szene gesetzte Geschichte und den richtig fiesen Humor, den Jan Müller-Michaelis und seine Mannen hier abfeuern. Auch wenn die harmlose Comicgrafik ein unbeschwertes Abenteuer für die gesamte Familie suggeriert, hat es der Plot von Harveys Neue Augen faustdick hinter den Ohren.

Lillis Aktionen resultieren oftmals in katastrophalen Konsequenzen für all jene, die um sie herum leben. Gleichzeitig werden sie bewusst auf eine kindlich-naive Art und Weise vermittelt, was einerseits der Zensurbehörde gefällt und andererseits in diesem ganz speziellen Falle ein originelles Stilmittel darstellt. Mehr noch: Durch die außergewöhnliche Darstellung der gewalttätigen Ereignisse entsteht ganz automatisch eine riesige Portion Zynismus, bei der ihr öfters mit offenem Mund sowie den Worten “Das ist ja jetzt wohl nicht wahr!“ auf den Lippen vor dem Bildschirm sitzen werdet. Zusätzlich realisiert ihr Stück für Stück die eigentliche Dramatik und Tiefgründigkeit des Geschehens, was euch besonders nach Beendigung des Abenteuers beschäftigen wird.