Wir erinnern uns: Erfurt, 26. Februar 2002 - der 19jährige Robert Steinhäuser läuft in seiner Schule Amok, erschießt 16 Menschen und schließlich sich selbst. Deutschland ist schockiert und sucht nach Gründen. Wie konnte der einst angehende Abiturient an eine Waffe kommen? Aber viel wichtiger: Wie lauteten seine Motive für die offensichtlich geplante Tat? Ein Großteil der Medien hatte mit dem Feindbild der Computer- und Videospiele schnell einen Schuldigen gefunden. Politiker setzten sich für die Indizierung des Taktik-Shooters 'Counter-Strike' ein, härtere Jugendschutz-Gesetze wurden gefordert. Zumindest Letztere sind Anfang 2003 in Kraft getreten; nur noch Erwachsene kommen offiziell in den Besitz von Titeln, die für Jugendliche ungeeignet sind.
Doch hat auch in der vielgescholtenen Industrie ein Umdenk-Prozess stattgefunden? Unter den Publisher und Entwicklern, die sich von den Medien falsch verstanden, bisweilen schon verfolgt sahen? 'Ja', mögen viele Spieler sagen: Kaltblütige Killer-Spiele vom Schlage eines 'Hitman: Contracts' oder 'Manhunt' sind nach wie vor Ausnahme statt Regel, der Gewaltgrad in den gängigen Ego-Shootern ist eher zurückgegangen. Vorfälle wie bei 'Far Cry', welches die USK durch sein Physik-System für Leichen verstimmte, sind selten geworden - kein anrüchiger Kracher der Machart eines 'Kingpin', kein 'Blood', kein 'Soldier of Fortune' gab der Öffentlichkeit die Chance, ihre Aversionen gegenüber Spielen und Spielern aufs Neue zu schüren.
Und doch hat der Markt eine Veränderung durchgemacht, die bedenklich ist: Wo vor einigen Jahren noch Einzelkämpfer gegen Aliens, Zombies oder finstere Bösewichter antraten, bestimmen nun politische Fraktionen, militärische Gruppierungen und realistische, zum Teil gar reale, Konflikte das Geschehen. Militär-Shooter haben sich schleichend durchgesetzt und werden in diesem Jahr ihren Siegeszug ungebremst fortführen - ganz oben auf den Most Wanted-Listen stehen 'Battlefield 2', 'Ghost Recon 2', 'Brothers in Arms', 'Medal of Honor: Pacific Assault' oder 'America's Army'. In Nordamerika können diese Titel durchweg mit einem 'Teen'-Rating rechnen, hier zu Lande ist überwiegend das blaue 'ab 16'-Siegel zu erwarten. Lapidare Begründung: Es fließt ja kaum Blut, der Gewaltgrad ist gering.
Vorbei die Zeiten, in denen ein 'Der Soldat James Ryan' nicht nur die Kinosäle, sondern auch die Diskussionsrunden im Fernsehen sowie die Feuilletons füllte, in denen jedermann die Frage stellte: Dürfen wir mit Krieg Unterhaltung machen und Geld verdienen? Was Filme angeht, sicher nicht. Sei es 'Black Hawk Down' oder 'The Alamo' - jeder vorgebliche Anti-Kriegsstreifen lässt die Gespräche aufs Neue aufblühen. In der Spielebranche hingegen hat noch nie jemand ernsthaft darüber gesprochen, ob es moralisch fragwürdig ist, die größte Freude bei einer möglichst detailgetreuen Nachbildung der Schlacht am Omaha Beach zu verspüren. Die Publisher verspüren kein Interesse daran, weil sie Spiele verkaufen wollen, die Presse will es nicht, weil sie mit genau diesen Titeln Leser an Bord lockt.
Doch gerade jetzt wäre ein Zeitpunkt, nach Erfurt und nach Irak, zu dem ein offenes Nachdenken möglich wäre, um das eigene Image mal wieder ein wenig aufzupolieren. Denn der nächste Amoklauf und der nächste Krieg kommen. Bestimmt.
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